Liebe dich selbst (oder so ähnlich)
Es ist merkwürdig, aber von allen Menschen auf diesem Planeten, und der ist objektiv betrachtet ziemlich groß, nervt uns oft derjenige am meisten, dem wir eigentlich uneingeschränkte Sympathie entgegen bringen sollten. Dieser spezielle Kandidat treibt uns in den Wahnsinn, sabotiert mit Vergnügen unsere Vorhaben oder verhält sich schlicht wie ein Idiot.
Um die Sache perfekt zu machen, klebt diese Person an uns wie alter Kaugummi am Schuh. Und zwar – jetzt kommt der absolute Knüller – für immer und ewig. Beziehungsweise mindestens so lange, bis wir eine Möglichkeit gefunden haben, uns selbst effektiv aus dem Weg zu gehen. Für alle, die die hohe Fertigkeit der Persönlichkeitsspaltung nicht beherrschen, dürfte diese Option jedoch weitestgehend eine Wunschvorstellung bleiben. Also müssen wir ab einem gewissen Punkt wohl einsehen, dass wir nicht von uns loskommen und einen Weg finden, damit vernünftig umzugehen.
Wie man das macht?
Leider weiß das keiner wirklich. Sonst könnte nicht ein ganzer Zweig der Literatur von Selbsthilfebüchern und Ratgebern leben. Wobei das im Endeffekt tragischer klingt, als es ist. Denn auch ohne ausgedehnte psychologische Tauchgänge sollte ein harmonisches Miteinander beziehungsweise wenigstens ein Waffenstillstand möglich sein. Dazu muss man lediglich die Perspektive anpassen. Macken? Gehören zum Charakter. Schwächen? Dahinter stecken manchmal unentdeckte Stärken. Rückschläge? In jedem von ihnen verbirgt sich bekanntlich eine Erfahrung. Der innere Schweinehund? Kann durchaus ein possierliches Haustier sein.
Nehmen wir zum Beispiel unser Äußeres. Rein objektiv betrachtet gibt es garantiert den ein oder anderen optischen Makel, der uns stört. Wir finden uns zu fett, zu blass, zu unsymmetrisch, zu kantig, zu knochig, zu sparsam bestückt.
Falsche Herangehensweise!
Speckrollen bilden dekorative Ausformungen der Silhouette. Eine zu breite Nase erleichtert das Atmen ungemein. Kleine Brüste trotzen über Jahre der Schwerkraft. Große Füße sorgen für einen sicheren Stand. Schmale Lippen und Schlupflider sparen auf Dauer eine Menge Make-up. Dünnes Haar weht schwerelos im Wind. Pickel und Falten geben dem Gesicht Profil. Zähne leuchten in Gelb viel schöner als in Weiß. Buschige Augenbrauen schützen die Linse vor Schmutzpartikeln. Ein Damenbart ist Ausdruck von Individualität.
Mein Gott, jetzt bin ich deprimiert. Und worauf zum Teufel wollte ich hinaus?
Ach ja ... die Sache mit der veränderten Perspektive. Ich fürchte, die funktioniert in der Realität eher selten. Wir sind eben unser härtester Kritiker und der vergleicht sich an schlechten Tagen vorzugsweise mit dem Hauptdarsteller in einer Kuriositätenschau. Bitte lösen Sie Ihr Ticket und genießen Sie die Show! Der Vorspann ist erschreckend, das Programm schonungslos und alles mündet im allseits bekannten Verdrängungsakt.
Letzterer manifestiert sich in der Fähigkeit, Selbstkritik umgehend zu ignorieren und jedes Fünkchen Disziplin, das zu Veränderungen führen könnte, sofort im Keim zu ersticken. Die genauen Prozesse sind wissenschaftlich noch nicht erforscht, allerdings muss es sich um eine Art Wahrnehmungsverzerrung handeln. Wenden wir nämlich unseren ausladenden Hintern vom Spiegel ab, scheint er in der Erinnerung automatisch schlanker zu werden. Und das vor einer Minute verpönte Rippchen Schokolade findet doch auf wundersame Weise den Weg zum Mund. Oder wir werfen nach (fast) drei quälend anstrengenden Liegestützen den Vorsatz über Bord, ohne Sauerstoffzelt den zweiten Stock zu erreichen – weil wir im ersten Stock wohnen und sich der Aufwand nicht lohnt.
Die optische Erscheinung und die damit oft verbundene Enttäuschung bildet allerdings nur die Spitze des Eisbergs. Die Natur hat uns in ihrer Großzügigkeit außerdem mit manch ungünstigen Eigenschaften ausgestattet, die es uns wahrhaft schwer machen, eine dauerhafte Freundschaft zu unserem Selbst aufzubauen. Dabei kann es sich um relativ harmlose Spleens handeln wie das Bedürfnis beim Reden mit den Händen herumzufuchteln als müsse ein Mückenschwarm abgewehrt werden. Oder um die lästige Angewohnheit, Nägel bis auf das Knochengerüst abzukauen. Genauso gut können es Charakterzüge sein, die merklich offensiver gegen uns arbeiten – wie die Unfähigkeit »Nein« zu sagen und das permanente Gefühl, Mist zu bauen.
Die Palette ist reichhaltig, aber ihre Vertreter haben im Wesentlichen eine Sache gemeinsam: Wir mögen sie nicht, sie mögen uns nicht und wir nehmen uns vergeblich vor, sie für den Rest unseres irdischen Daseins in ein schwarzes Loch zu verbannen. Die Betonung liegt dabei auf »vergeblich«. Was im Grunde jedoch nicht viel ausmacht, denn selbst wenn es uns gelänge, würde das langfristig wenig nützen, denn sie kriechen mit erstaunlicher Beharrlichkeit immer wieder daraus hervor. Was wiederum egal wäre, hätten sich diese kleinen Biester nicht zum Ziel gesetzt, uns zu vernichten.
So zwingen sie uns sogar mit Kreuzschmerzen automatisch zu nicken, sollte uns ein Bekannter bitten, ihm beim Umzug zu helfen. Woraufhin wir samt Drei-Zentner-Karton krachend auf dem Boden landen und uns schuldig fühlen, weil der Inhalt zu Bruch gegangen ist. Zum Glück ein Fall für die Haftpflichtversicherung. Anders als der Bandscheibenvorfall, der uns die folgenden Wochen ans Bett fesseln wird.
Apropos schwarze Löcher. Da wir schon von nervtötenden Eigenschaften und dem Wunsch, sie in tiefe Abgründe zu verbannen, sprechen, sollte ein bestimmtes menschliches Talent an dieser Stelle eine Extraerwähnung finden.
Um welches es sich dabei handelt? Ich gebe mal einen kleinen Hinweis: In unserem genetischen Code würden findige Wissenschaftler diesen Tick garantiert im Handumdrehen entdecken, weil das entsprechende Glied in der DNS-Kette vermutlich scharlachrot gekennzeichnet und mit der neongelben Warnung »Vorsicht!« versehen ist. Außerdem führt er – um den Kreis zu schließen – regelmäßig dazu, dass wir uns ein Loch herbeiwünschen, in dem wir uns verkriechen können.
Bereits eine leise Ahnung, was ich meine? Ich werde das Rätsel auflösen. Ich spreche von der Neigung der menschlichen Rasse, mit Elan in sämtliche verfügbaren Fettnäpfchen zu treten und sich darin zu suhlen.
Beispiele gefällig? Kaum setzt sich unser Lästermaul in Bewegung, sticht das Objekt der Verbalattacke um die Ecke. Und die Akustik kann gar nicht so schlecht sein, dass der Betreffende nicht jedes einzelne gemeine Wort verstanden hätte. Ebenfalls prototypisch ist die Gratulation zum bevorstehenden Nachwuchs, der sich im Nachhinein als Überreste einer doppelten Sahnetorte entpuppt. Getoppt wird dieser Fauxpas lediglich von uncharmanten Verwechslungen a la »Schön, dass Sie Ihre liebe Mutter mitbringen« (»Das ist meine Frau«) oder »Haben Sie dieses furchtbar hässliche Auto in der Auffahrt gesehen? (»Ja danke, das ist meines«).
In der Regel meinen wir das nicht böse. Das Problem besteht vielmehr in einer mangelnden Kooperation von Zunge und Gehirn. Wobei Letzteres sich eindeutig der Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft erfreut, denn es fängt erst zu arbeiten an, wenn es bereits zu spät ist.
Das weit größere Problem besteht darin, dass wir uns im Anschluss an jene Entgleisungen meist genötigt fühlen, den Sprung ins Fettnäpfchen wieder auszubügeln. Und das macht die Sache nur noch viel schlimmer. Im Klartext sollte man tunlichst darauf verzichten, die freundlich unterstellte Schwangerschaft mit der saloppen Ausrede: »Oh das tut mir leid, sie sitzen ungünstig, wodurch es das ganze Fett nach oben schiebt« zu kommentieren.
So, wie kriegen wir jetzt die Kurve zum Ausgangsthema? Fettnäpfchen, Macken, Ticks, zu breiter Hintern, null Selbstdisziplin. Mal nachdenken. Wir sind eben Menschen und keine Maschinen. Schwächen gehören zu unserer Natur und wer den Trottel in sich lieben lernt, lebt erheblich leichter. Okay, vielleicht nicht gleich lieben. Für den Anfang genügt eventuell akzeptieren. Oder tolerieren. Oder ...