Der Schatten
Man sagt, dass sich an Orten, die angefüllt sind mit dem Schmerz oder Leid vieler, eine derart große Menge negativer Energie sammelt, dass diese irgendwann eine eigene Existenz annimmt. Man sagt auch, dass diese Wesen aufgrund ihrer Herkunft nichts Menschliches besitzen. Manches davon mag stimmen, anderes ist wohl abhängig von der Betrachtungsweise.
»Donnerstag, sechster September 2012. Name der Patientin: Magdalena Wegner. Vorläufige Diagnose: Wahnvorstellungen infolge massiven Schocks mit Verdacht auf paranoide Schizophrenie. Vierte Sitzung.« Routiniert platzierte Doktor Strahtmann das Aufnahmegerät in der Mitte des breiten Schreibtischs. Dann rückte er seinen Stuhl zurecht und wandte sich der jungen Frau zu, die ihm gegenübersaß.
Sein erster Eindruck war, dass die traurige Kleine, wie er sie im Stillen nannte, noch blasser aussah als sonst. Sie hatte kein Make-up aufgelegt und das kastanienbraune Haar, das zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden war, betonte zusätzlich die scharf geschnittenen Konturen ihres Gesichts. Ausgeprägte Wangenknochen unter ebenmäßiger Haut und darin eingebettet zwei moosgrüne Augen, die ihn aufmerksam fixierten.
Er ließ das Bild einen Moment auf sich wirken; diese spezielle Mischung aus Härte und Zerbrechlichkeit, die ihm stets ein Ziehen in der Magengegend verursachte. Diese scheinbare Alterslosigkeit, die seiner Erfahrung nach zwar viele Mädchen Anfang zwanzig ausstrahlten, jedoch selten in einer derart intensiven Weise, dass man es bewusst wahrnahm. Als würden ihre Iriskreise das Wissen um etwas Größeres konservieren ... unheimlich und anziehend ...
Er schüttelte den Gedanken ab.
»Wollen wir uns ein wenig unterhalten?«
Lena Wegner schwieg. Sie senkte den Kopf, presste ihre Beine gegen die Brust und ignorierte jeden seiner Versuche, erneut Blickkontakt aufzunehmen.
Strahtmann nickte und massierte seine faltigen Hände. Ablehnendes Verhalten konnte ihn längst nicht mehr aus der Ruhe bringen. Wenn ihn achtzehn Jahre Psychiatrieerfahrung eines gelehrt hatten, dann welche Macht letztendlich die Geduld besaß. Menschen wie Lena durfte man nicht drängen. Man musste sich ihrem Schweigen anpassen. Ihnen die nötige Sicherheit vermitteln und abwarten. Irgendwann ergriffen sie von ganz alleine das Wort.
»Wir müssen nicht reden. Wir können auch einfach nur hier sitzen.«
Seine Patientin spielte unsicher mit den Bändeln ihrer grauen Jogginghose und schien, den Vorschlag genau abzuwägen.
»Es ist Ihre Entscheidung.« Strahtmann lehnte sich zurück.
Draußen ging der Nachmittag in Abend über. Die Stille in dem kleinen Therapieraum war jetzt fast greifbar und das Ticken der Wanduhr klang unerträglich laut. Kurz blinzelte Lena Wegner zu ihm auf, als ob sie hoffen würde, dass er weitersprach. Aber er sprach nicht weiter, sein Mund blieb ein stoischer Strich am Rande eines Lächelns.
»Dieser Schrei ...«
Na also. Zufrieden beugte er sich vor und versuchte, ihren Blick aufzufangen. Diesmal ließ sie ihn für fast eine halbe Minute gewähren, ehe sie die Augen wieder senkte und in Schweigen verfiel.
»Was meinen Sie damit, Lena?« Sie reagierte nicht. Ohne seine Fragen zu beachten, starrte sie weiter zu Boden. »Hat Ihr Freund geschrien?«
Seine Patientin schlang die Arme enger um die Knie. Eine Träne verfing sich in ihren Wimpern. Sie wischte sie achtlos weg und schüttelte den Kopf.
»Wer dann?«
»Niemand.«
»Haben Sie geschrien?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Lena ...«, das Ticken der Wanduhr bohrte sich penetrant in seinen Schädel. Warum war die Kleine bloß so verdammt stur? Ihre Verstocktheit kostete ihn noch den letzten Nerv. »Wer hat geschrien?«
»Die Straßenbahn ...« Ein Zittern durchlief ihren schlanken Körper. »Dieses furchtbare Geräusch kurz bevor ...« Sie brach mitten im Satz ab und schnappte nach Luft.
»Ja?« Strahtmann wartete einen Moment, doch sie unternahm keine Anstalten, den Gedanken zu Ende zu führen. »Ich fürchte, ich verstehe Sie nicht, Lena.«
Wütend registrierte er das Vibrieren in seiner Stimme. Das durfte nicht sein. Er musste die Kontrolle behalten. Wurde er ungeduldig, verlor er die Verbindung zu ihr. Das konnte er nicht akzeptieren; nicht wenn sie endlich Fortschritte machten. Also zwang er sich, die Hände auf den Tisch zu legen und tief durchzuatmen.
»Schon in Ordnung«, sagte er. »Lassen Sie sich Zeit.«
»Die Straßenbahn …«, setzte sie zum zweiten Mal an und verzwirbelte mit den Fingern eine Haarsträhne. »Das Kreischen der Schienen ... wie der Schrei eines Ungeheuers.« Ihre Augen flackerten und sie zupfte an ihrem Daumennagel.
Ein enttäuschter Ausdruck huschte über Strahtmanns Miene. Der Lärm der bremsenden Straßenbahn - das war nicht unbedingt das Thema, das er erörtern wollte, aber zumindest hatten sie einen Anfang gefunden. Vielleicht, wenn er ein wenig nachhalf ...
»Lena, woran können Sie sich noch erinnern?«
»An nichts.«
»Sind Sie sicher?« Strahtmann seufzte. »Sie müssen ehrlich zu mir sein, sonst kann ich Ihnen nicht helfen.«
»Ich bin nicht verrückt!«
»Das behauptet auch niemand.«
»Ach nein?« Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und funkelte ihn an. »Warum sperrt man mich dann hier ein?«
Die Heftigkeit, mit der sie ihm gegenübertrat, überraschte ihn.
»Sie sind zu Ihrem eigenen Besten bei uns.«
»Blödsinn!«
»Kommen wir zurück zu Ihrem Freund.«
»Er ist tot. Was gibt es da noch zu reden?« Sie schloss die Augen und presste den Mund zu einem engen Schlitz zusammen.
»Eine ganze Menge.« Strahtmann stöhnte innerlich. Dieses Mädchen machte es ihm wirklich nicht leicht. »Wir könnten uns zum Beispiel über die Tatsache unterhalten, dass er von einer Straßenbahn überrollt worden ist, oder über das Trauma, das Sie dabei erlitten haben.« Er schluckte und verlangsamte seinen Tonfall. »Man brauchte immerhin eine Stunde, um ihn zu befreien. Sie haben bei ihm gesessen und seine Hand gehalten, bis er seinen Verletzungen erlegen ist.«
»Danke für die Belehrung. Als würde ich nicht jede Minute daran denken«, zischte sie; und zum ersten Mal an diesem Tag hatte er das Gefühl, halbwegs zu ihr durchzudringen.
Einem spontanen Impuls folgend berührte er ihren Arm. »Was empfinden Sie dabei?«
Lena lachte trocken auf. »Was sollte ich Ihrer Meinung nach denn empfinden?«
»Fühlen Sie sich für seinen Tod verantwortlich?«
Sie wirkte sichtlich erstaunt. »Warum?«
»Nun, weil er zu Ihnen wollte. Sie haben ihm zugewunken und er rannte los. Direkt vor die Straßenbahn.« Sacht verstärkte er den Druck auf ihren Arm. »Natürlich trifft Sie keine Schuld an dem Unfall. Er hätte den Fußgängerüberweg benutzt müssen oder sich zumindest umsehen. Trotzdem könnten Sie sich unbewusst …«
»Es war kein Unfall.«
»Bitte?«
»Nichts.«
»Nein, nein. Sie haben gerade gesagt ...«
»Vergessen Sie, was ich gesagt habe.«
»Eine Sekunde ...«, umständlich blätterte er in seinen Notizen. »Laut Polizei und Ihrer Schilderung befand sich niemand in unmittelbarer Nähe Ihres Freundes, als es passierte. Stimmt das?«
Sie nickte.
»Trotzdem behaupten Sie, es sei kein Unfall gewesen. Wollen Sie etwa andeuten, dass er Selbstmord begangen hat?«
»Nein.« Lena Wegner schrumpfte in sich zusammen.
»Hören Sie, das bringt uns nicht weiter.« Strahtmann wischte sich den Schweiß vom Kinn. »Warum kommen Sie mir nicht ein bisschen entgegen?«
Sie umklammerte die Tischkante.
»Wovor haben Sie solche Angst, Lena?«
Die Mundwinkel des Mädchens zuckten. Mitleidig beobachtete er den Kampf, der hinter ihrer Stirn tobte. Sie wollte sich ihm anvertrauen. Sie wollte es ihm erzählen. Sie brauchte nur den richtigen Anstoß.
»Bei Ihrer Einlieferung murmelten Sie etwas von einer Erscheinung, die Ihren Freund vor die Straßenbahn gezogen hat. Ist es das? Fürchten Sie sich davor?«
»Nicht weiterreden. Bitte.«
»Schatten – so haben Sie ihn genannt, oder? Glauben Sie, dieser Schatten hat ihm das angetan? Ist er hier? Bedroht er Sie vielleicht?« Er sah sie zittern und verstärkte den Druck in seiner Stimme. »Befindet er sich jetzt in diesem Raum? Lena, Sie müssen sich dem stellen – begreifen Sie das nicht? Vertrauen Sie mir, ich kann Ihnen dabei helfen.«
»Lügner!« Sie entriss ihm ihren Arm und schüttelte heftig den Kopf.
»Ich stehe auf Ihrer Seite.«
»Nein, Sie sperren mich ein. Sie sagen, ich hätte Wahnvorstellungen. Dass ich verrückt sei und Hilfe bräuchte. Aber das ist nicht wahr!«, schrie sie und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte.
Ein Pfleger öffnete die Tür einen Spalt breit und schielte zu ihnen herein. Strahtmann bedeutete ihm knapp, dass alles in Ordnung sei, und bat ihn, die nächsten Minuten auf keinen Fall gestört zu werden.
Sein Nacken kribbelte. Seit dem Zwischenfall im Gemeinschaftsraum galten auf dieser Abteilung besondere Sicherheitsmaßnahmen, sobald der Geräuschpegel ein bestimmtes Level überschritt oder sich jemand irgendwie auffällig verhielten. Durchaus sinnvoll, wenn man bedachte, dass sich am helllichten Tag und unter dreißig Zeugen ein Patient die Halsschlagader aufgeschnitten hatte. Dennoch konnte er an diesem heiklen Punkt keine weiteren Unterbrechungen dulden.
»Na schön, Lena.« Er klopfte demonstrativ auf die Akte vor sich und runzelte die Augenbrauen. »Dann muss ich Sie wohl mit der Realität konfrontieren: Sie haben ernsthafte psychische Probleme. Paranoide Schizophrenie. Sie können Wahrheit und Einbildung nicht mehr voneinander unterscheiden.«
»Schwachsinn!«
»Außerdem sind Sie latent selbstmordgefährdet.«
»Was? Das stimmt nicht.«
»Nein?« Er klappte den Pappordner auf, obwohl er den Abschnitt bereits auswendig kannte. »Waren Sie nicht schon vor zwei Jahren bei uns? Weil Sie versucht haben, sich mit Schlaftabletten das Leben zu nehmen?«
»Das war doch etwas völlig anderes! Meine Mutter war gerade an Krebs gestorben. Ich bin von heute auf morgen vor dem nichts gestanden.«
Falls überhaupt möglich changierte ihre Gesichtsfarbe noch eine Spur stärker ins Weiße und er hätte am liebsten aufgehört, so gnadenlos in sie zu dringen, aber er brauchte eine Antwort. Ein klares Ja oder Nein auf eine Frage, die wie Feuer in seinem Brustkorb brannte.
»Wollen Sie sterben, Lena?«
»Nein!«
»Und ihr Freund? Erfinden Sie dieser Schatten nicht bloß, um zu verdrängen, dass er sich umgebracht hat?« Strahtmanns sonst sanfter Bariton wurde schneidend. »Sie wissen, dass er solche Gedanken hatte, oder? Aber Sie können es nicht akzeptieren. Ihm nicht verzeihen, dass er Sie allein gelassen hat. Wie Ihre Mutter!«
»Nein! Nein! Nein!«
»Lena ...«
»Hören Sie auf!« Die junge Frau hielt sich die Ohren zu.
»Ich will Ihnen nur helfen.« Er berührte quer über den Tisch ihre Schulter, aber Sie stieß ihn weg. »Vertrauen Sie mir.«
»Warum sollte ich? Sie haben mir das Ganze doch erst angetan!« Spucketröpfchen klebten tauartig an ihren Lippen und sämtliche Fasern ihres Körpers bebten. »In dieser verdammten Klinik hat es angefangen! Hier hat er auf mich gelauert.« Sie ballte die Hände zu Fäusten. »Jede Nacht war er in meinem Zimmer. Ich konnte seine toten Augen auf mir spüren. Sein Flüstern ... Ich habe alles ignoriert, damit ich endlich rauskomme. Aber er ist mir gefolgt! Ständig war er da ... er hat ihn umgebracht ...«
Schockiert ob des heftigen Ausbruchs, saß Strahtmann regungslos in seinem Stuhl und fühlte das Blut aus seinem Gesicht weichen. Ameisen krabbelten unter seiner Haut. Unfähig zu reagieren klammerte er sich an die Akte und sammelte Feuchtigkeit im Mund, während seine Patientin kraftlos in sich zusammensackte.
»Lena?«
Langsam hob sie den Kopf und suchte Blickkontakt. Ihre moosgrünen Augen flackerten; und ausnahmsweise wünschte er sich diesmal, sie würde stattdessen ihre Knie anstarren. Denn in den glänzenden Pupillen lag Erkenntnis.
»Sie haben ihn auch gesehen, oder?« Ihre Frage klang eher wie eine Feststellung. »Sie wissen, dass ich nicht verrückt bin.«
Von draußen drang das leise Quietschen von Gummisohlen auf Linoleum herein. Das Ticken der Wanduhr glich einem künstlichen Herzschlag und das Rot des Abends flammte durch die Fenster.
»Wir sollten unsere Sitzung für heute beenden.«
»Nein. Bitte sagen Sie es mir.«
»Ruhen Sie sich aus. Wir setzen das Gespräch morgen fort.« Vehement hämmerte Strahtmann auf die Stopptaste des Aufnahmegeräts.
»Sie haben ihn gesehen!« Nun griff sie ihrerseits nach seinem Arm und zwang ihn, sie anzuschauen. »Helfen Sie mir!«
»Ich habe gar nichts gesehen, Lena.«
»Sie lügen!«
»Morgen um die gleiche Zeit.« Er schüttelte ihre Hand ab und stürmte zur Tür hinaus. Das Linoleum kreischte auf und beinahe wäre er mit dem Pfleger im Gang zusammengestoßen.
»Bringen Sie die Patientin auf ihr Zimmer und erhöhen Sie die Medikamentendosis«, herrschte er den verdutzt dreinblickenden Mann an. »Und richten Sie meiner Sekretärin aus, sie soll alle Termine für den restlichen Tag streichen!«
Ohne sich weiter in Erklärungen zu verlieren, schritt er eilig zum Ausgang, passierte die Auffahrt des Parkplatzes und sank schwer in den Sitz seines BMW. Er brauchte dringend Urlaub. Ein paar Tage weg von dieser dämlichen Klinik und ihren Irren. Vielleicht eine Woche auf die Kanaren oder ins Gebirge ...
Hinter ihm vibrierte die Luft. Ein kalter Hauch streifte seinen Nacken und brachte die feinen Härchen dazu, sich aufzustellen. Der Schatten. Zögern schielte er in den Rückspiegel. Das dunkel verzerrte Bild auf der silbernen Oberfläche bestätigte ihm, dass er tatsächlich auf der gepolsterten Bank saß und nicht allein seinem malträtierten Hirn entsprang.
»Du hast gelogen.«
»Inwiefern?« Der Schatten lehnte sich zurück und verschränkte die nicht vorhandenen Arme.
»Du hast gesagt, du holst nur diejenigen, die ohnehin nicht mehr leben wollen.«
»Und?« In der rauchigen Stimme schwang Spott mit.
»Der Junge wollte nicht sterben!«
»Ach nein?«
»Nein!«
Der Schatten starrte ihn schweigend an; und in dem nebulösen Schwarz meinte Strahtmann, etwas wie ein schiefes Grinsen zu erkennen. Ein Ausdruck, der ihm eisige Schauer über den Rücken jagte.
»Warum?«
»Ich denke nicht, dass ich meine Motive vor dir rechtfertigen muss.«
»Es ist wegen des Mädchens, oder?«
Das Grinsen verschwamm zu einer dünnen Linie. Sein Magen verkrampfte sich und die Ader an seiner Schläfe begann, zu pochen. Der Schatten dagegen zeigte keinerlei Emotion.
»Ich habe Pläne mit ihr«, flüsterten die schwarzen Lippen.
»Du hast ihn getötet, weil er dir im Weg stand.« Strahtmanns Stimme war kaum mehr als ein Keuchen. »Ist es nicht so?«
»Und wenn schon.«
Gefrorenes Blut kroch durch die Adern des Arztes. Die Welt jenseits der Frontscheibe schien ihm auf einmal klarer und härter zu sein. Scharfe Konturen, deren Kanten seine Netzhaut zerschnitten.
»Was war mit all den anderen?«, murmelte er, beobachtete den Rückspiegel und schluckte bittere Magensäure. »Wollten sie sterben?«
»Ein paar.«
»Mein Gott ...«
»Wo liegt dein Problem?« Langsam beugte sich der Schatten vor und rückte mit der Andeutung eines Kopfes nahe an sein Ohr. »Habe ich dir in all den Jahren das Leben nicht leichter gemacht? Dich von unbequemen Patienten befreit und auf dich Acht gegeben? Wie bei dem Kerl im Gemeinschaftsraum, der ständig deine Sitzungen gestört hat?«
Strahtmanns trockener Mund formte stumm Worte, die sein Verstand auf ihn niederprasseln ließ. Sicher war es ihm immer seltsam vorgekommen, dass so viele der Patienten an Selbstmord gedacht haben sollten. Aber er hatte es geglaubt – es glauben wollen. Denn was wäre die Alternative gewesen? Sich gegen ein Wesen zu stellen, dessen Natur er nicht einmal im Ansatz begriff?
»Ich kann das nicht länger zulassen.«
»Was willst du tun?«
»Dich aufhalten. Es allen erzählen.« Entschlossen tastete Strahtmann nach dem Türgriff. »Gleich jetzt!«
Der Hebel rührte sich nicht.
»Lass mich raus!«
»Das geht dummerweise nicht.« Freundschaftlich legte ihm der Schatten eine Hand aus wabbligem, unechtem Fleisch auf die Schulter. »Schade, ich mochte dich irgendwie.«
Sein kalter Atem entfernte sich.
Im nächsten Moment zischte der Gurt aus seiner Verankerung und schoss in die Schließe. Sein breites Band schnürte Strahtmann die Brust ein und zeichnete im Vorbeiziehen einen schmerzhaften, roten Striemen auf seinen Hals.
»Nein!« Panisches Japsen produzierte einen Dunstfleck auf der Scheibe. »Hilfe! Jemand muss mir helfen!«
Der Motor sprang an und aus dem Augenwinkel sah er die Handbremse nach unten schnappen. Dann bewegte sich das Gaspedal träge Richtung Boden. Die Automatik wanderte zum Rückwärtsgang und der Wagen scherte elegant aus der Parklücke. Etwa zehn Meter dümpelte der BMW über das weitläufige Gelände, ehe er mitten auf einer Freifläche stehen blieb – in direkter Luftlinie zum Ostflügel der Klinik.
»Niemand stellt sich mir ungestraft in den Weg.«
Der lederbezogene Schaltknüppel wechselte erneut die Position, das Gaspedal wurde bis zum Anschlag durchgedrückt und Strahtmanns Wagen raste ungebremst auf die Mauer zu.
»Aber ich werde dich vermissen«, flüsterte der Schatten alternierend zu den Schreien, die gegen das Lenkrad hallten. »Ehrlich ...«
Das letzte Wort ging in einem Knall und dem lauten Bersten von Metall unter. Dazwischen mischten sich wahnsinniges Gelächter.
Aber all das hörte Strahtmann nicht mehr. An dem Punkt hatte sein Geist längst seinen Körper verlassen. Jene nutzlose Hülle, die eingeklemmt in dem Wrack seines Autos steckte.