Die Schrödinger-Methode

 

Vermutlich hat der ein oder andere schon von dem bekannten Gedankenexperiment „Schrödingers Katze“ gehört. Es wurde im Jahr 1935 formuliert und geht auf den österreichischen Physiker und Wissenschaftstheoretiker Erwin Rudolf Josef Alexander Schrödinger (1887-1961) zurück.
Dieser Mann hatte nicht nur relativ viele Vornamen, er gilt zudem als einer der Begründer der Quantenmechanik und erhielt 1933 zusammen mit dem Briten Paul Dirac den Nobelpreis für Physik. Für „die Entdeckung neuer produktiver Formen der Atomtheorie“.
Erwin Schrödinger zählte also zweifelsohne zu den helleren Köpfen der Gesellschaft. Ein ausgesprochener Tierfreund scheint er hingegen nicht gewesen zu sein – oder er mochte schlicht und ergreifend seine Katze nicht.

Experimentaufbau

Zu Beginn wird der unglückselige Stubentiger in eine blickdichte Kiste gesperrt. Mit in das provisorische Verlies kommt die sogenannte „Höllenmaschine“. Die teuflische Apparatur besteht im Wesentlichen aus drei Komponenten: einer radioaktiven Substanz, einem Geigerzähler und einer tödlichen Dosis Gift.
Natürlich hat das Ganze einen fiesen Haken. Der Atomkern in der radioaktiven Substanz ist instabil, weshalb die realistische Gefahr besteht, dass er innerhalb des festgesetzten Zeitrahmens von einer Stunde zerfällt. Im Optimalfall liegt die Wahrscheinlichkeit exakt bei 50 Prozent. Das heißt im Optimalfall für das Gedankenexperiment, nicht für das Tier.
Zerfällt der Atomkern, registriert das der Geigerzähler und löst ein Hämmerchen aus, das den Glaskolben mit dem Gift zerschlägt und so die Katze tötet. Was uns automatisch zu folgender Frage führt:

Wozu das Ganze?

Schrödinger wollte damit ein Paradoxon aus der physikalischen Theorie in die materielle Welt übertragen, sprich den Zustand von Atomen auf eine Katze. Der Zustand atomarer Systeme entscheidet sich nämlich erst mit der Messung und bis dahin befinden sich die Atome gleichzeitig in allen Zuständen von zerfallen bis intakt. Um bei dem armen Tier zu bleiben – solange niemand die Kiste aufmacht, bestehen zwei Möglichkeiten:

  1. Die Katze hat die Regenbogenbrücke überquert und liegt mausetot alle Viere von sich gestreckt, mit heraushängender Zunge und panisch aufgerissenen Augen neben der Höllenmaschine
  2. Die Katze ist quicklebendig, indes vermutlich stocksauer auf Erwin Rudolf Josef Alexander Schrödinger

Bis sich tatsächlich jemand erbarmt und nachsieht, ist das bedauernswerte Geschöpf damit rein theoretisch zur gleichen Zeit tot wie auch lebendig. Die beiden Varianten überlagern sich.

Zombiekatzen?!

Klingt spannend, aber seien wir ehrlich: In unserem von nervenaufreibenden Filmen und Büchern geprägten Gehirn hatte die Katze nie eine reelle Chance. Sie ist gestorben und Punkt.
Das Atom ist nach fünf Minuten zerfallen, der Geigerzähler hat angeschlagen und die Ampulle mit dem teuflischen Gift zerstört, woraufhin sich grüner Nebel in der Kiste ausbreitete, der in dicken Schwaden bis in die hinterste Ecke waberte, in der die Katze in Todesangst kauerte und auf ihr unvermeidliches Ende wartete, welches sodann auf grausame Weise eintrat.
Sorry Kitty! Möge dich ein Ort voller Mäuse und Wollknäuel im Jenseits erwarten.

Langsam wird das hier haustierfeindlich …

Bewegen wir uns daher weg von toten Stubentigern und übertragen das Bild auf unser Leben. Denn darum soll es hier eigentlich gehen. Schrödingers Katze ist eine Metapher.
Die besagt, dass wir mit einer Höllenmaschine in einer Kiste gefangen sind und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit am Ende sterben?

Nein. Na ja, vielleicht teilweise – obwohl das eine reichlich düstere Auslegung des irdischen Daseins wäre. Schrödingers Gedankenexperiment auf eher alltägliche Dinge projiziert, bedeutet im Grunde nichts anderes, als dass wir immer wieder mit Situationen konfrontiert werden, deren Ausgang ungewiss ist. Klassische Beispiele wären:

  • Prüfungen
  • Bewerbungen
  • Untersuchungen

Aber in diese Kategorie fallen auch längerfristige Projekte wie:

  • Urlaub
  • Beruf
  • Beziehungen

Und im Zweifelsfall neigen wir eher dazu, mit einem negativen als mit einem positiven Ausgang zu rechnen.
Die Bewerbung für den neuen Job landet im Papierkorb, die Prüfung haben wir in den Sand gesetzt und der komische Hautknubbel am Knie ist bestimmt ein tödlicher Parasit. Wir müssen den seit Monaten geplanten Urlaub absagen, werden gefeuert und während unsere gesamte Existenz den Bach runtergeht, betrügt uns unser Partner garantiert mit jemandem, der gesünder und erfolgreicher durch die Welt spaziert.

Das ist ja übel!

Richtig. Also warum zum Mephisto tun wir uns das an? Wieso mutieren wir zum Geist, der stets verneint?

  • Weil es in unserer Natur liegt?
  • Zur effektiven Optimismus-Kontrolle?
  • Um Enttäuschungen vorzubeugen?

Was spricht gegen eine Einladung zum Vorstellungsgespräch, die bestandene Prüfung oder einen harmlosen Hautknubbel, woraufhin wir uns den lang ersehnten Urlaub mit dem Partner gönnen – bezahlt von der fetten Erfolgsprämie für unsere gute Arbeit? Verdammt viele Fragezeichen.

Lassen wir die Katze stattdessen doch einfach am Leben

Wie, das liegt an uns?
Natürlich steht es nicht in unserer Macht, den Zerfall des Atoms zu beeinflussen und zu entscheiden, ob Schrödingers kleiner Kumpel noch am Leben ist, wenn die Kiste aufgeht. Höchstens indem wir das Tier in einer Kamikazeaktion befreien. Was schwierig sein dürfte, da beide bereits seit über fünfzig Jahren tot sind.
Allerdings sind wir in der Lage, unsere Gedanken zu beeinflussen. Wir können uns vorstellen, der Katze ginge es gut. Jedenfalls solange, bis die Kiste geöffnet wird und wir uns der Realität stellen müssen.

Auf das Leben übertragen

Ähnlich sieht es bei Situationen mit ungewissem Ausgang aus. Wir stoßen sie an und haben dann lediglich noch beschränkten oder eventuell überhaupt keinen Einfluss mehr auf sie. Sehr wohl aber darauf, wie wir über sie denken.
Statt wie sonst üblich den Pessimisten raushängen zu lassen, könnten wir zur Abwechslung glauben, alles würde ein gutes Ende nehmen.

Klingt ein bisschen nach Selbstbetrug

Nicht direkt, immerhin besteht eine realistische Chance, dass die Dinge wirklich zu einem positiven Abschluss kommen. Außerdem geht es letztlich nicht so sehr um das Ergebnis, sondern darum, uns die Zeit dazwischen nicht unnötig schwer zu machen. Wie der deutsche Kabarettist, Schauspieler und Autor Karl Valentin einmal sagte: „Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.“

Die Methode konkret

Im Kern läuft es auf ein gewisses Maß an Optimismus gewürzt mit einer ordentlichen Prise Pragmatismus hinaus.

Das heißt nicht, dass du ...

  • Wichtige Prüfungen auf die leichte Schulter nehmen solltest
  • nicht trotzdem an deiner Beziehung arbeiten musst oder
  • darauf vertrauen kannst, dass der ominösen Hautknubbel schon irgendwann von alleine abfällt

Es bedeutet, wenn du die Wahl hast, an ein positives oder negatives Ende zu glauben, glaube an das positive, dann hast wenigstens in diesem Moment ein gutes Gefühl.
Angenommen, du legst eine Prüfung ab und denkst wochenlang, du hättest sie vergeigt, was bringt dir das? Solltest du durchgefallen sein, ändert deine negative Denkweise nachträglich nichts daran, und solltest du bestanden haben, hast du dich wochenlang umsonst festiggemacht.
Gönn dir die Zeitspanne, in der alles offen ist, um Motivation zu sammeln und zur Ruhe zu kommen. Klappt es nicht gleich auf Anhieb, versuche es erst einmal mit einem einzelnen Tag.
Das wird schon – und im Zweifelsfall denk immer daran: Die Katze von Erwin Rudolf Josef Alexander Schrödinger hatte viel üblere Probleme.