Skepsis als neue Religion?

 

Wenn man uns Menschen der sogenannten Zivilisation unterstellt, wir wären von Grund auf skeptische Wesen, so kann das wohl kaum jemand ernsthaft leugnen. Indes darf es im Gegenzug eigentlich auch niemanden wirklich wundern, dass wir die Fähigkeit zu glauben, schlichtweg verloren haben. Es mangelt uns an Vertrauen und das leider zu Recht – schließlich werden wir schon von Kindesbeinen an nach Strich und Faden belogen.
Vermutlich beginnt der Prozess bereits im Mutterleib, doch glücklicherweise sorgt das Gehirn im Embryonal- und Säuglingsalter für eine rasche Verdrängung irrelevanter Informationen. Mit anderen Worten, alles, was über die Töpfchensache oder das heiß ersehnte erste »Mama« hinausgeht und keine nachweislichen Spuren hinterlässt, hat in der Erinnerung niemals stattgefunden. Diese Phase verkorkst uns eher unterschwellig. Dafür äußerst effektiv. Fragen Sie den Psychiater Ihres Vertrauens, er wird Ihnen das gern bestätigen.
Vermutlich eine der frühesten bewussten Lügen unseres Lebens liegt aber thematisch gar nicht so weit entfernt; nämlich beim Zeugungsakt. Beziehungsweise bei notgeilen Bienen, die unschuldige Blumen schänden und es dann dem Klapperstorch in die Schuhe schieben wollen. Mal ehrlich, wie soll man Erziehungsberechtigte später ernst nehmen, die mit so einem Quatsch ihre Aufklärungskampagne beginnen?! Fehlt bloß noch, dass sie einem erzählen, masturbieren führe zu spontaner Erblindung und Rauchen schade der Gesundheit. Eine der beiden Storys dürfte zutreffend sein, leider ist unsere Fähigkeit zur Selektion zu dem Zeitpunkt bereits leicht angeschlagen.

Und mit zunehmendem Alter wird es nicht besser. Die Lügen kommen nur nicht mehr ganz so plump und metaphorisch daher. Werbung zum Beispiel. Ein hanebüchener Klassiker. Da wird dem arglosen Teenager erzählt, er müsse sich lediglich Produkt XY ins Gesicht schmieren, um die aktuelle Pickelkrise in den Griff zu kriegen und bei Mandy aus der Parallelklasse zu landen. In Wahrheit hilft das Zeug ungefähr so zuverlässig wie warme Umschläge bei Cholera. Außerdem geht Mandy längst fest mit Christian aus der Oberstufe, der locker einen Kopf größer als unser Teenager und wenig angetan von den Flirtversuchen mit seiner Freundin ist.
Ersetzen wir den Pickelteenager durch Konsument X und seine Angebetete durch Wunschzustand Y reduzieren wir die Hormonbelastung um ein Vielfaches, das Ergebnis bleibt aber letztlich dasselbe: Perfekt in Szene gesetzte Unwahrheiten, die uns mittels ihrer Sirenengesänge Produkte andrehen wollen, die wir nicht brauchen. Die Wunder-Zahnpasta, die trotz gegenteiliger Versprechungen verfärbte Zähne natürlich nur bedingt weißer macht. Slipeinlagen, die dir dank bewegungsaktiver Oberflächenstruktur angeblich bis in die Anden folgen und dennoch beim ersten falschen Schritt im körpereigenen Grand Canyon landen. Waschpulver, das selbst Blutflecken aus Vampirumhängen rauskriegen soll, bei ordinärem Ketchup jedoch überraschenderweise versagt. Cremes, die sich rühmen, achtzigjährige Haut glattzubügeln, und im Selbstversuch keine einzige Falte ausmerzen – dafür aber Pickel wie bei einem Teenager verursachen.
Irgendwann nach der maximal erträglichen Zufuhr kalter bis schmerzhafter Ernüchterungen finden unsere seit Kindertagen schwelenden Zweifel neue Nahrung. Wir sehen zweimal hin, hinterfragen dreimal und verteufeln pauschal alles. Dann könnte jemand »das Wasser der Auferstehung und des ewigen Lebens« im Supermarkt verkaufen; wir hielten es für Schwindel. Und es bräuchte Lazarus, Imhotep oder Jesus persönlich, um uns zu einem Pröbchen zu überreden.

Das Phänomen beschränkt sich dabei selbstverständlich nicht auf die Werbeunterbrechungen, auch die Sachen, die dazwischen gesendet werden, haben es in sich. Das Fernsehen überschüttet uns mit einer derartigen Flut an Halbwahrheiten und inszenierten Realitäten, dass man ohne Lügendetektor oft nicht einmal die Lautstärke hochdrehen kann.
Im Rahmen dessen dürfen wir herzergreifende Begegnungen verzweifelter Singles begleiten, die trotz zehnfacher Wiederholung der Einstellung fast authentisch wirken. Oder wir verfolgen das pseudoreal gestellte Leben von Else Nebenan und Hanno Dauercool, die nach Drehbuch ihren Alltag spielen. Statt herkömmlicher Seifenopern, die wenigstens zu ihrer wirklichkeitsfremden Handlung stehen, bewirft man uns mit Real-Life-Soaps, inszenierten Talkrunden und beschnittenen Dokus. Man serviert uns Casting-Sendungen nach Schema F, bei denen die Manipulation derart zum Himmel stinkt, dass der Sieger Reklame für Fischstäbchen machen könnte. Wieder andere Regisseure füttern uns mit Spielshows, die ihre Kandidaten der Lächerlichkeit preisgeben. Und weil das Konzept so super aufgeht, stopft man Pseudo-Informations-Programme hinterher, die uns der Bequemlichkeit halber gleich eine vorgefertigte Meinung zum jeweiligen Thema mitliefern. Hauptsache die Einschaltquoten stimmen.

Eventuell ist das aber gar keine böse Absicht, sondern bloß die Widerspiegelung eines globalen Trends. Immerhin pflegen die Medien ganz allgemein ein eher lockeres Verhältnis zur Wahrheit. Warum sonst drucken Frauenzeitschriften die 33 besten Wundermittel gegen Cellulitis, während übers Radio Wetteransagen laufen, die eine statistische Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent besitzen? Im Zuge der kreativen Presse führen Promis imaginäre Affären, trennen und versöhnen sich Paare, die niemals zusammen waren, erfahren wir von einer mutmaßlichen Terror-Zelle in Castrop-Rauxel und einem gigantischen Meteor, der geradewegs auf die Erde zurast. Im Zweifelsfall finden wir in der nächsten Ausgabe die entsprechende Gegendarstellung. Alles kein Problem. Naja, abgesehen vom enttäuschten, ernüchterten und verunsicherten Publikum, das den Großteil des Zeitgeschehens ab sofort wohl unter dem Schlagwort »zu überprüfende Behauptungen« abheftet.
Wir sind umzingelt von Musikern, bei denen allein das konsequent durchgezogene Vollplayback eine Anzeige wegen akustischer Körperverletzung zu verhindern weiß. Von gedopten Sportlern und opportunistischen Politikern, die Wahlversprechen als grobe Richtlinie erachten. Wer heute den roten Teppich entlang schlendert, trägt meist dickeres Make-up als Batmans Gegenspieler der Joker. Ohne Spanks und eine ordentliche Ladung Botox traut sich kaum noch ein Celebrity aus dem Haus. Und Fotos, die nicht bis zum Erbrechen per Bildbearbeitungs-Software retuschiert sind, haben echten Seltenheitswert. Satt Persönlichkeit präsentiert man ein Image. Wohlfrisiert und perfekt zurechtgestutzt.
Wie, was und warum sollten wir überhaupt etwas glauben, das an die Öffentlichkeit gelangt? Zu diesem Zeitpunkt ist es längst geprüft, korrigiert, gehobelt und poliert.

Selbst Lieschen Müller und Karl-Heinz Mayer springen auf den Zug auf. So täuscht uns hier ein gelgefüllter BH, da eine Socke in der Hose, dort ein Lifting. Werden wir durch gefärbte Haare, implantierte Muskeln, getünchte Wimpern, Solarium gebräunte Haut, Extensions und gebleichte Zähne geblendet. Führen uns neu bepflanzte Glatzen, aufgespritzte Lippen, künstliche Fingernägel, abgesaugtes Fett und Silikongebirge in die Irre. Offen zu seinem Alter zu stehen, gilt beinahe als Affront und jemanden darauf anzusprechen als Angriff auf die Menschenwürde.
Schon im direkten Umgang miteinander möchte man sein Gegenüber manchmal in die allzu perfekte Nase kneifen, nur um zu sehen, ob sie abfällt. Noch schlimmer geht es in der Pixel gewordenen Grauzone Internet zu. Gewährt dir das Second Life hinter dem Bildschirm doch den Luxus, dich ganz nach Belieben völlig neu zu erschaffen. Auf diese Weise entpuppt sich die schlanke, blonde, nymphoman veranlagte, 22-jährige Arzthelferin Cindy am Ende eines hocherotischen Chats schnell mal als Gerd, 56-jähriger Fleischermeister aus Dessau.
Mach dich jünger, mach dich größer, mach dich interessanter. Der Fake regiert die Welt.
Und ehe der erste Rentner das beliebte Sprüchlein »früher war alles besser« von sich gibt – nein, war es nicht. Facebook hieß damals zwar noch Telefon und World of Warcraft Gummihupf, nichtsdestotrotz liefen Schein und Sein genauso auseinander wie heute. Vermutlich flunkerte bereits Kleopatra im Bettgeflüster mit Caesar, was die Anzahl ihrer abgelegten Liebhaber anbetraf. Mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit schummelte sich Napoleon durch Einlegesohlen zwei Zentimeter größer. Und Ludwig II täuschte seine Gunst für die Damenwelt offenbar nur vor, obgleich es ihn eher in die Arme des Stallmeisters zog. Wie uns »Die Päpstin« lehrte, steckte nicht unter jeder Tonsur ein Mönch. Außerdem wissen wir dank Dan Browns »Sakrileg«, dass Maria Magdalena keine Hure, sondern Opfer einer üblen Verleumdungskampagne war.
Lug und Trug in schillernden Farben und gedämpften Tönen. Zu allen Epochen, quer durch die Gesellschaft, über sämtliche Kulturen hinweg. Seit Adam und Eva mit dem angebissenen Apfel in der Hand aufgeflogen sind, geht es mit der Ehrlichkeit steil bergab.

Schöne heuchlerische Welt.
Zur Krönung des Ganzen verspürt ein gewisser Teil der Bevölkerung zudem den merkwürdigen Drang, seine Mitmenschen bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu bescheißen. Anders ausgedrückt: zu linken, auszunehmen, über den Löffel zu ziehen, abzufroschen, auszutricksen, reinzulegen, zu übertölpeln und nach sämtlichen Regeln der Kunst abzuzocken.
Wer kennt sie nicht – die gefälschten Bankschreiben im heimischen E-Mail-Postfach, die zu einer sofortigen Herausgabe der Kontodaten auffordern und bei Missachtung des Befehls mit dem Verlust der Zinsen oder gar dem Untergang der westlichen Hemisphäre drohen? Selbstredend eine kriminelle Masche notorisch unterbeschäftigter Hacker, die als Bonus und Gratisdreingabe gleich noch einen Virus mitschicken. Alternativ können diese Nachrichten auch von einem Inkassobüro, einem Versicherungsunternehmen oder dubiosen Mitarbeitern eines nicht existenten Kundenservices stammen. Respektive von einer netten Dame namens Olga Geilinski, die dein Profil auf einer sozialen Plattform entdeckt und sich unsterblich in dich verliebt hat.
Erreichen sie dich nicht auf digitalem Wege, schicken sie dir analog eine Einladung zur demnächst anstehenden Kaffeefahrt. Einem Ausflug in die Pampa, auf dem du ein erstklassiges Messerset im Wert von 2 Euro 79 geschenkt bekommst und im Gegenzug so lange in einem stickigen Raum eingesperrt wirst, bis du für 3.000 Euro ergoenergetische Heizdecken kaufst. Und ja, das Wort »ergoenergetisch« ist erfunden.
Noch nostalgischer veranlagte Verbrecher halten dir einen Stadtplan unter die Nase und klauen dir die Geldbörse. Oder sie geben den geläuterten Häftling, um dir ein überteuertes Zeitschriftenabo anzudrehen. Oder spionieren deine Adresse aus, indem sie dich in eine Unterschriftenaktion zum Schutz der dreibeinigen Albino-Eidechse hineinquatschen. Oder verkaufen dir eine originale Armbanduhr von Roollexx zum Vorzugspreis plus Freundschaftsrabatt. Oder ... Die Energie von Betrügern, Gaunern, Ganoven, Halsabschneidern und Lumpen ist schier unerschöpflich.
Sollte uns in Anbetracht solcher Erfahrungen eines Tages eine Fee begegnen und uns drei Wünsche anbieten – was täten wir dann? Statistisch betrachtet würden schätzungsweise sechzig Prozent der Leute einen Anwalt die Details des Vertrages prüfen lassen, dreißig Prozent argwöhnisch ablehnen und zehn Prozent das kleine Miststück mit der Fliegenklatsche erledigen.

Dieses Spiel könnten wir bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag fortsetzen und wären garantiert trotzdem in der Lage, uns permanent zu steigern. Immerhin haben wir noch nicht einmal die Themen »Weihnachtsmann« und »Osterhase« angeschnitten. Ganz zu schweigen von den Klassikern »ewige Treue« und »todsichere Anlageoptionen«.
Um also wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Wie zum Teufel sollten wir uns in einem Umfeld, in dem oft schon das erste »guten Morgen« des Tages gelogen ist, die Fähigkeit zu glauben bewahren? Da stehen letztlich die Chancen besser, durch gezielte Pilates-Übungen das Fliegen zu erlernen. Wir verlieren unser Vertrauen – beizeiten sogar schneller als die Milchzähne – und das unter Garantie nicht zu Unrecht.
Wir hinterfragen. Wir zweifeln. Wir bedienen uns der Skepsis. Als Religion? Als Waffe? Als Schutzfunktion? Als Pose oder Haltung? Vielleicht. Doch bei allem, was sich hier Buchstabe an Buchstabe reiht, handelt es sich am Ende vermutlich um nichts weiter als eine natürliche Reaktion auf das Leben.