Sein bester Freund
Sorgsam ließ Walther Kabowski das geblümte Baumwollfrottee-Tuch durch die Finger gleiten und hängte es danach auf den Ständer. Soweit er sich erinnerte, hatte Gerda die Wäschestücke vor knapp fünf Jahren angeschleppt – mit diesem speziellen Glanz in den Augen, der besagte, dass sie ein besonderes Schnäppchen gewesen sein mussten.
»Sind die nicht bezaubernd?«, hatte sie gesäuselt und ihren Schatz neben dem Waschbecken drapiert.
Walther seufzte. Bezaubernd. Ja, früher vielleicht. Seit Gerda unter der Erde lag, waren es bloß noch simple Handtücher.
»Mir haben sie eigentlich nie gefallen. Zu kitschig ... Was meist du, Gustav?«
Als wolle er seinem Herrchen zustimmen, wedelte der kleine Dackelmischling zu seinen Füßen mit dem Schwanz und gab einen kehligen Kläffer von sich.
»Außerdem sind sie jetzt eindeutig ruiniert.« Er besah sich die roten Flecken, die zwischen den winzigen rosa Blüten prangten. »Das geht nie wieder raus.«
Erneut bekundete Gustav seine Zustimmung, indem er sich aufsetzte und winselnd den Kopf schief legte.
»Was für ein Tag ...« Müde schlurfte Walther aus dem Bad. »Wenn ich fertig bin, machen wir unsere Runde, ja?«
Er trottete ins Schlafzimmer und angelte ein sauberes Hemd aus dem Schrank. Der kleine Dackelmischling trabte behäbig hinterher. Sein Bauch schleifte fast auf dem Boden und die graue Schnauze bewies, dass er alt geworden war. Kein Wunder, in Hundejahren zählte Gustav rund dreiundsechzig Lenze. Damit war er zwar vier Jahre jünger als sein Herrchen, trotzdem befürchtete Walther, dass sein Freund diesen Vorsprung niemals aufholen würde. Seine Nieren versagten allmählich, die kurzen Beinchen wollten nicht mehr recht und bei längeren Spaziergängen verfiel er in ein Hecheln, das an schweres Asthma erinnerte.
»Hast du die Leine gesehen?« Während er mit der einen Hand sein frisches Hemd zuknöpfte, suchte Walther mit der anderen das Telefonbänkchen ab. Dabei streifte sein Blick das Schreiben der Hausverwaltung. »Sehr geehrter Herr Kabowski ...«, las er halblaut. »... aufgrund wiederholter Beschwerden Ihres Nachbarn Herr Schrader ... müssen wir Ihnen leider mitteilen ... uns gezwungen sehen ... die Haustierhaltung zu untersagen ...«
Er schob den Wisch beiseite und blinzelte zur Küche. Obwohl er gewusst hatte, welches Bild ihn erwartete, fuhr er unwillkürlich zusammen. Schraders Beine lagen verdreht Richtung Flur und ein schmaler roter Strom schlängelte sich an ihnen entlang. Sein übriger Körper verschwand glücklicherweise hinter der Wand.
»Da ist sie ja.« Abwesend nahm er die Leine vom Garderobenhaken.
Er hatte nicht gewollt, dass es so weit kommt. Er hatte nur mit ihm reden wollen. Vernünftig. Von Nachbar zu Nachbar. Aber Schrader hatte ihn angebrüllt, Gustav angebrüllt – und plötzlich war das Messer in seiner Hand gewesen ...
»Lass uns gehen.« Lächelnd ließ er den Karabiner an Gustavs Halsband einschnappen und öffnete die Haustür. »Ich schätze, das wird unser letzter Spaziergang, mein Freund.«
(Erschienen 2011 in der Fernsehzeitschrift Funk Uhr)
Es ist ganz einfach
In dem kleinen Kellerraum roch es muffig und an den Wänden perlte Feuchtigkeit langsam den Stein entlang. Kirsten schlang ihre Arme um die Knie. Sie zitterte vor Kälte und Angst – wobei sie nicht hätte sagen können, welches Gefühl augenblicklich überwog. In dieser Sekunde, da sie seine schweren Schritte auf der Treppe hörte, vermutlich Letzteres.
Sie hielt die Luft an und starrte zur Tür. Die nackte Glühbirne, die von der Decke hing, flackerte. Gleich würde sich das Holz quietschend bewegen, seine massige Gestalt den Rahmen ausfüllen und das Spiel von vorne beginnen; wie jeden Tag, seitdem er sie hier eingesperrt hatte.
»Guten Morgen.« Seine tiefe Stimme schien zwischen den Wänden widerzuhallen.
Sie zuckte unwillkürlich zusammen und zog sich in den hintersten Winkel ihrer Liege zurück. Er grinste nachsichtig, ließ sich aber zu keiner weiteren Reaktion herab. Lärmend stellte er einen Teller samt Becher auf das kleine Tischchen neben ihr und schnippte gegen die Glühbirne. In ihrem nun steten Licht sah Kirsten, dass sich die Menge ihrer heutigen Essensration erneut reduziert hatte. Eine halbe Scheibe Brot, ein Teelöffel Quark und vier Fingerbreit Wasser.
Durstig leckte sie sich die Lippen. Die gestrige Ration war schon verbraucht gewesen, lange bevor sie eingeschlafen war; und das musste Stunden her sein. Eine Vermutung, denn Zeit konnte man ohne Tageslicht nur schwer einschätzen.
»Greif ruhig zu.«
Sie schüttelte müde den Kopf. Ihr Magen schmerzte vor Hunger und Tränen verfingen sich in ihren Wimpern.
»Wann lassen Sie mich endlich gehen?« Es gelang ihr nicht, die Frage zu unterdrücken, obwohl sie die Antwort natürlich kannte.
»Wann immer du möchtest.«
»Jetzt. Ich will jetzt gehen.«
»Kein Problem.« Nickend strich er sich übers Kinn, griff in die Tasche seines Mantels und holte eine Pistole heraus. »Erschieß mich und du bist frei.«
Mit stoischer Miene drückte er ihr die Waffe in die Hand; ein klobiges Ding, das hinter ihrem verschleierten Blick noch irrealer wirkte als ohnehin schon. Kirsten legte die klammen Finger darum und richtete den Lauf auf seine Brust. Das schwarze Ungetüm vibrierte. Er trat näher, bis die Mündung direkt an seinem Oberkörper auflag und sie ihn atmen spürte.
»Es ist ganz einfach ...«
Kirsten presste krampfhaft die Lippen aufeinander. Das sagte er jedes Mal, bloß war es das eben nicht. Sie wollte abdrücken. Heute. Gestern. Vorgestern. Vor einer Woche. Gelegentlich krümmte sich sogar ihr Zeigefinger. Allerdings nie genug, um es zu beenden.
»Tja, schade.«
Durch den dichter werdenden Tränenschleier sah sie sein emotionsloses Gesicht und die Hand, die die Waffe wieder an sich nahm. Ihr Herz raste. Dann verschwanden beide hinter der Tür und sie blieb allein zurück.
»Scheiße!« Verzweifelt drückte sie die Stirn gegen ihre Knie.
Sie hatte ihre Chance verspielt. Aber vielleicht schaffte sie es ja morgen. Oder übermorgen. Oder nächste Woche.